Leseprobe “Wozu braucht man Jungs”

Wozu braucht man Jungs?

 

Franziska Sgoff

 

 

Das Glück dieser Erde

4. Mai

 

Schnell renne ich zum Haus, um Susanne abzuholen. Hinter mir läuft meine beste Freundin Mona, die sich normalerweise nur in der Schule sportlich betätigt. Aber jetzt scheint ihr die Aufregung einen Motor unter die Füße zu schnallen.

Es ist Samstagvormittag, die Sonne strahlt vom blauen Himmel und in meinem Inneren jubelt es so sehr, dass ich zuerst glaube, mir den Laut nur eingebildet zu haben. Doch ich nehme es tatsächlich wahr. Rechts im Garten, durch einen Lattenzaun von uns getrennt, bellt freudig ein Hund. Dann springt er an der Begrenzung hoch. Gerne würde ich dem Labrador über sein weiches Fell streicheln. Doch da geht bereits die Haustür auf und Susanne kommt uns entgegen. Zwei Stufen führen nach unten, die sie so sicher nimmt, wie ich mit Tim das Inline-Skaten üben will. Sie benutzt nicht einmal ihren Stock, um den Boden abzutasten. Locker hält sie ihn in der Hand, während ihre Augen, als könnten sie sehen, zu dem Hund hinübergleiten.

„Rocky! Aus! Das sind nur Freunde!“

Obwohl sie ihn zurechtweist, bemerke ich die Zuneigung in ihrer Stimme. Außerdem fällt mir auf, welche Klamotten sie trägt: eine pinke Outdoor-Weste, dunkle Matschhose und Turnschuhe.

Nach einer kurzen Umarmung hakt sich Susanne bei mir unter, damit ich sie zum Wagen führen kann. Am Steuer des Passats sitzt Petra Steiner, Monas Mutter. Weil sich mein Bruder auf dem Beifahrersitz ausgebreitet hat, schieben wir Mädels uns zu dritt auf die Rückbank.

„Alles angurten“, ermahnt uns Frau Steiner. Und dann drückt sie auch schon aufs Gaspedal.

Mit jedem Kilometer, den wir zurücklegen, steigert sich meine Vorfreude. Aufgeregt plappert Mona neben mir, doch ich höre gar nicht hin, weil meine Gedanken um das Abenteuer kreisen. Wenigstens fällt mir auf, dass Susanne ungewöhnlich still ist. Sie zupft an ihrer Kleidung herum und wirkt ein bisschen blass.

„Alles okay?“

„Ich … habe das noch nie gemacht“, gibt sie zu Bedenken.

„Aber kein Problem!“ Mona wirft beide Hände in die Luft. „Du darfst dich den Tieren bloß nicht von hinten nähern. Ansonsten … Alles easy! Freu dich drauf!“

„Und wenn sie mich nicht mögen? Oder sie haben Angst vor mir“, wendet Susanne ein.

Dasselbe habe ich am Anfang auch befürchtet, doch die Trainer wissen, was sie tun. Und sie werden meine Freundin nicht alleine lassen. So kann ich ihr nur Mut zusprechen.

„Außerdem musst du nicht rauf, wenn es dir unangenehm ist.“

Von vorne lässt Kevin ein Brummen hören, das alles Mögliche bedeuten könnte. Freundschaftlich drücke ich Susannes Hand und irgendwie ringt sie sich zu einem Lächeln durch.

„Da ist das Schild!“, ruft Mona, „nur noch ein paar Meter!“

Nach 20 Minuten Autofahrt rollen wir auf den mit Kies gesäumten Parkplatz. Meine Augen huschen sofort zu einem ausgewachsenen Pferd. Wie gut es mir gefällt mit seiner langen, weißen Mähne und den kräftigen Fesseln! Eine junge Frau, die den Hengst am Halfter führt, nickt uns fröhlich zu.

„Herzlich willkommen auf unserem Hof. Ich bin Clara, eine der Reitlehrerinnen. Und das ist Bingo.“

Sie tätschelt den Hals ihres Gefährten, der daraufhin ein Schnauben von sich gibt. Nacheinander stellen wir uns ebenfalls vor.

„Super“, meint Clara, „dann mach ich euch gleich mit Iris bekannt, die unsere Schule leitet. Muss nur noch kurz Bingo in den Stall bringen. Oder“- sie schaut zu Mona -„magst du mir helfen? Wenn du bereits Reitstunden hattest, kennst du dich ja aus.“

„Gern!“ Mona strahlt. Beinahe wäre sie zu Bingo gehüpft, den sie zuerst an ihrer Hand schnuppern lässt.

Susanne traut sich noch nicht, ein wildfremdes Pferd zu berühren. So schüchtern, wie sie plötzlich wirkt, habe ich sie nie zuvor erlebt. Aber Iris weiß damit umzugehen.

„Wir haben in unserem Reitunterricht Erfahrung mit Behinderten. Rollstuhlfahrer zum Beispiel. Blinde Reitschüler hatten wir bisher noch nicht, aber du kannst uns doch weiterhelfen?“

Iris, die ich auf Mitte 50 schätze, trägt Stiefel in dezentem Gelb. Hose und Jacke sind im selben Farbton gehalten, während braune Locken ihr rundliches Gesicht umrahmen. Mit ihrer Stimme im Alt stellt sie klar: „Beim Reiten kommt es darauf an, das Pferd zu spüren. Und ich glaube, dass du die Körpersprache des Pferdes auch ohne Augenlicht erkennst. Wir probieren es gemeinsam.“

Dafür wählt sie Sternchen aus, eine liebe Schimmelstute. Mir weist sie einen Haflinger zu. Dann schaut sie Kevin an, doch der zuckt nur die Schultern.

„Gucke zu, damit die Mädels nicht runter fallen.“

„Na, dann kann ja nichts schiefgehen!“ Iris bietet ihm noch eine Limonade aus dem Kühlschrank an.

Während er davongeht, um sich das Getränk zu holen, nehme ich Kontakt zu Votan auf. Meine Finger gleiten durch das rötliche, samtweiche Fell, bis er mich anstupst. Eine Einladung, um aufzusteigen?

Wenig später fliegt die Landschaft an mir vorbei und ein freudiges Prickeln breitet sich in meiner Magengegend aus. Ich kann es noch nicht richtig fassen, so wunderbar ist diese grenzenlose Freiheit. Votan bewegt sich in gleichmäßigem Tempo. Seine lange Mähne weht im Wind und nachdem ich meinen Zopf gelöst habe, fliegen mir die Haare wie ein Vorhang ins Gesicht.

Der Geruch nach Frühling und Wald steigt mir in die Nase. Ich will niemals aufhören, diesen Moment für immer festhalten. Die Sonne auf meiner Haut und ich auf diesem wunderschönen, starken Pferd. Hier fühle ich mich so sicher, als gäbe es uns in dieser Kombination schon eine Ewigkeit.

Ich wende den Kopf, um Mona zu sehen, die ausgelassen auf Bingo thront und mir zuwinkt. Von Iris geführt, dreht auch Susanne ein paar Runden über den Platz. Erst vor zwei Wochen habe ich sie kennen gelernt und wie viel inzwischen passiert ist, kann ich kaum glauben. Vor allem hätte ich nie erwartet, mit meinem Bruder auf den Reiterhof zu kommen. Aber Kevin hat sich vor der Reithalle positioniert. Er lehnt am Zaun und scheint wirklich darauf zu achten, dass uns nichts passiert. Als er meinen Blick bemerkt, grinst er mich an. Da lasse ich mit einer Hand die Zügel los, um meinen Daumen hochzurecken. Denn dieses Erlebnis kann uns niemand mehr nehmen.

 

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