Vor kurzem fuhr ich, gemeinsam mit meinem Vater, meinen Freund zum Bahnhof. Dort angekommen mussten wir ein wenig auf den Zug warten. Da war ein Mann, der herumlief und unentwegt einen Text rezitierte. Es hörte sich an, wie eine Predigt einer Sekte oder mittelalterlich wirkenden Religion, oder irgendetwas anderes, was mit dem Mittelalter zu tun hat. Mein Vater beschrieb, dass er ganz schwarz angezogen war und einen Koffer und einen Bilderrahmen bei sich trug. Mir machte das echt Angst. ich dachte, dass er sich jeden Augenblick auf die Schienen werfen würde. Er sagte auch etwas von „Gesindel“. Entweder waren wir, die über ihn redeten damit gemeint, oder es gehörte zu seinem Stück. Eine Frau, die ebenfalls am Bahnsteig wartete, erklärte uns, dass der Mann ein Schauspieler sei öfter am Bahnhof wäre, meistens mit der S-Bahn führe und normalerweise bunt angezogen war. Okay, dachte ich! Der ist völlig ungefährlich. Möchte nur seinen Text üben,
aber kann man das dann nicht irgendwo anders tun? Still für sich?
Ich erzählte Freunden von dieser Begegnung. Viele sagten, dass es mutig von ihm ist, sich dort hin zu stellen und zu rezitieren. Im Nachhinein betrachtet finde ich das auch. Ganz ehrlich schäme ich mich auch etwas dafür, nicht tolerant gewesen zu sein und mich sogar ein bisschen gegruselt zu haben.
Es war für mich einfach neu. Wenn das in Zukunft öfter vorkommen würde, zum Beispiel mit einem Bahnhof-Poetry-Slam, dann wäre das auch überhaupt nichts Besonderes mehr.
Genauso ist das mit der Inklusion. Je öfter Menschen mit Behinderung in den Alltag von Menschen ohne eine Einschränkung integriert werden, desto weniger ungewohnt ist das dann auch!
Ich habe wirklich ein bisschen an mir und meiner Toleranz gezweifelt!
Schließlich möchte ich selbst akzeptiert und toleriert werden.
Also möchte ich im Gegenzug andere Menschen ebenso akzeptieren! Das tue ich meistens auch, aber da ich auf dem Bahnhof die Situation überhaupt nicht einschätzen konnte, war es für mich befremdlich.
Im Nachhinein fände ich es toll, wenn es öfter Menschen gäbe, die Texte rezitieren. Es würde die Wartezeit auf die nächste Bahn netter gestalten.
Aber vielleicht bleibt das auch erst mal eine Einzigartigkeit, die aber dennoch akzeptiert werden sollte.
Ich wünsche dem Mann alles Gute und hoffe, dass ihm das üben auf dem Bahnhof geholfen hat!